Impulse & Inspirationen

Ein Blog von Kirstin Kluckert

VOR DEM BAUM SITZEN
Themen: Reisen
22. Februar 2023

VOR DEM BAUM SITZEN

Es ist drückend heiss. Über 45 Grad C, auch im Schatten.

Ich sitze mit vielen anderen vor dem Baum der Erleuchtung Buddhas. Ein kostbarer Moment. Es ist schon spät für heute, bald wird es dunkel. Ich sitze und atme. Überall sind Menschen die auch sitzen und atmen. Nichts weiter. Es ist so wundervoll friedlich.

Unter meinen nackten Füssen spüre ich die grossen quadratischen Marmorfliesen. Sie fühlen sich warm, aber nicht heiss an. Angenehm für die müden Füsse der Pilger aus aller Welt.

Der Baum hat tiefsitzende starke Äste und ist voll belaubt. Die Blätter haben eine hübsche rundliche Form und laufen in einer langen Spitze aus. Sie sind zart und sehr symmetrisch verästelt.Eine Art Feigenbaum.

Der Baum selbst ist sichtbar alt und hat viel erlebt. Sein Stamm muss wohl sehr breit sein, doch ich kann ihn nicht sehen oder berühren, denn er ist mit einem dicken steinernen Zaun beschützt. Sicher würde er sonst nicht überlebt haben, denke ich. Der Zaun aus Stein hat Gitterstäbe, die mit Blumenornamenten verziert sind. Wo immer man den Stein berühren kann ist er mit Gold bemalt, wie glänzende kleine Konfettis aus Gold. Und direkt vor dem Baum sind grössere Flächen golden. Dort gibt es eine Platte mit einer Tempelform darauf, ganz flach und auch vergoldet, an die man seine Stirn legen kann. Die Erleuchtung möge dann gewiss kommen, so heisst es.

Als ich meine Stirn dagegen lehne spüre ich ein zartes Vibrieren, sanft und liebevoll. Ein gelbgrüner Lizard schaut neugierig hinter dem Zaun hervor und lächelt. Das ist ein sehr schöner Augenblick.

Beseelt und andächtig sitze ich noch ein wenig länger vor dem Baum und bestaune alles. Ich möchte mir jeden Anblick und jedes Geräusch für immer einprägen, so schön ist es.

Die Pilger umrunden den Tempel, der hinter dem Baum steht. Ein kegelförmig, oben etwas spitz zulaufender Bau. Ungewöhnlich für Indien, finde ich. Die Wände des Tempels sind über und über mit geometrischen Formen und kleinen blumanartigen Einsparungen versehen. Er wirkt fast wie ein ausserirdisches Artefakt. Etwas weiter unten, so im unteren Viertel des Baus, gibt es grössere Nischen und Öffnungen für Buddhaskulpturen. Auch hier ist alles vergoldet, was erreichbar ist. Als hätte der sehnsüchtige Versuch der Pilger etwas von Buddha zu berühren, alles golden gemacht.

Die Dämmerung setzt ein und die Hunde, die vor dem Baum ebenso selbstverständlich sitzen, wie wir alle hier gähnen ausgiebig. Sie strecken sich und scheinen ganz zufriden mit sich und dem Sein. Langsam beginnt es rund um den Tempel zu leuchten. Erst vereinzelte kleine Lichter und bald schon ganze Flächen, die in bunten Farben strahlen. Je dunkler es wird, desto mehr kleine Lämpchen erstrahlen. Bald ist die ganze Tempelanlage in unglaublichen Farbtönen mit Hunderten von Lichterchen beleuchtet. Es gibt blaue und rote Flächen. Grüne herabfliessende Lichter, gelbe einzelne Punkte.

Vom Baum aus gehen etwa 25 in leuchtend orange gewandete Mönche mit kahl rasierten Köpfen auf die Gartenanlage heraus. Sie halten alle Butterlämpchen in den Händen, die in einer lotusförmigen Schale getragen werden. Eine lange Reihe von Lichtern, die durch die bunten Lichter wandert.