Impulse & Inspirationen

Ein Blog von Kirstin Kluckert

PILGERN III
Themen: Reisen
11. April 2023

PILGERN III

Ich kann Kolkata noch ganz deutlich spüren. Der rauchige Smog und der Geruch nach brennendem Müll. Es ist dunstig und feuchtwarm. Es ist eigenartig ruhig. Und an den Ghats ist es ebenso ruhig. Nur die grossen Milane kreisen und kreisen. Die Wege sind unbefestigt und aus rotem Lehm. Alles ist mit rotem Staub bedeckt. Auch die Götter.

Hinten, vor dem Ghat, welches man durch schmale Pfade zwischen den Gebäuden erreichen kann, werden die Götter gemacht. Genauer gesagt, die Götterfiguren. Sie werden aus Gips gegossen oder geformt und dann aufwendig und prunkvoll bemalt und verziert. Niemand kann hinterher noch Gips entdecken. Und doch ist es nur Gips.

Ich laufe durch die Gassen und suche. Ich suche nach Mutter Theresa. Mich hat schon so lange die Frage gewurmt, warum Mutter Theresa unbedingt hier sein wollte. Hier in der Hitze und dem Staub. Hier, wo es doch die gastfreundlichsten Inder geben soll.

Ich laufe durch die Strassen. Die Hunde laufen auch und knurren. Kolkata hat Hunger, denke ich. Und darum war Mutter Theresa hier, oder?

Rechts und links an den autobefahrenen Strassen führen enge Gassen in kleine Viertel hinein. Dort gibt es ein kleines Häuschen neben dem anderen. Sie schmiegen sich dicht aneinander. Sie sind weiss und neu und mit Blau sind Türen und Fenster bemalt. Ich sehe keine Menschen. Doch es ist ja auch zu heiss jetzt. Es ist Mittagspause.

Kolkata hat auch andere Stadtteile. Kolkata ist eine Rechtsanwaltsstadt. Und eine Stadt der Bücher und Leser. Die Häuser hier sind aus rotem Backstein und hübsch viktorianisch. Alle Fenster und Türen sind mit eisernen Gittern verschlossen. Wer wird hier denn eingesperrt, frage ich mich. Oder wird hier wer ausgesperrt? Es bleibt geheim, denn es ist Pause.

Ich laufe durch die leeren Strassen und es wird heisser und drückender. Alles klebt an mir. Die einzigen Menschen, die jetzt arbeiten, schrauben an Autos. Sie liegen darunter oder darauf. Manche sitzen in Schuppen und sortieren bergeweise Müll. Ein trostloses Dasein, denke ich entsetzt.

Zur Rechten kann man in einen Slum hinein laufen. Obwohl es Slums hier offiziell gar nicht gibt. Doch dieser hier ist registriert und wohl auch gefördert und er freut sich angeblich über einen Besuch. Natürlich nur, wenn man etwas mitbringt.

Es ist mir zutiefst unangenehm hier durch die Pfade zwischen den Wellblech- und Papphütten hindurch zu gehen. Es ist mir viel zu nahe. Es geht mir viel zu nahe. Die Menschen haben kaum Kleidung, haben keine Betten, haben keine Toiletten. Es gibt in der Mitte des Slums einen Wasserhahn für alle. Kinder spielen dort und alle holen sich hier Wasser, in Eimern, in Kanistern oder einfach in Bechern. Gleich dahinter ist die Schule. Kinder in allen Altersbereichen kommen täglich hierher. Sie lernen schreiben und rechnen. Für ein bisschen Geld, kann man ihnen Hefte schenken. Und sie knicksen artig und singen dafür. Ich möchte vor Scham versinken, doch sie nehmen mich bei der Hand und wollen ganz viel wissen. Sie sprechen ein wenig Englisch. Sie befühlen meine Kleider, nehmen meine Haarspange und finden meine Fingernägel toll. Sie sind absolut ohne Scheu und ohne Bosheit. Sie ziehen mich auf den Boden und ich sitze zwischen ihnen und höre ihre Geschichten an. Wer mit wem befreundet ist und wer was gemacht hat und was sie sich wünschen. Und ich gewinne sie sofort lieb. Ich wünsche mir sofort ihnen viel mehr zu geben, als nur eine Haarspange, Hefte und Süsses. Aber sie haben überhaupt keine Erwartung. Sie lachen einfach und sind unwiderstehlich lebendig. Es sind die liebevollsten Kinder, die ich auf meinen Reisen kennenlernen durfte.